von Matthias Rode

In meiner Kindheit gab es zweieinhalb Fernsehsender (das Dritte haben wir nur sehr grisselig reingekriegt) eine handvoll Radiosender und eine Tageszeitung. Und Frau Schmidt vom örtlichen Bäckerladen, die alles sah, manches hörte und viel erzählte. Die Vorläuferin einer Influencerin. 

Mehr Medien standen Kindern der 80er nicht zur Verfügung. In diesem Blogeintrag möchte ich zeigen, wie sehr sich seitdem nicht nur die Medienwelt verändert hat, sondern auch die Auswahl der Inhalte durch die Medienkonsument*innen. Wer heute Inhalte erstellen und zu seiner Zielgruppe bringen möchte, muss diese Mechanismen verstehen, um in einer Welt des Medienüberangebots relevant zu bleiben. 

Wikipedia bietet mehrere Definitionen zu  dem Begriff „Medien“ an. Ich füge eine weitere hinzu: „Medien“ im Wortsinne verstehe ich als Instanzen, die zwischen Ereignissen und Betrachter*innen stehen. Aus allen möglichen Ereignissen, seien es Hochzeiten, Naturkatastrophen, Wahlen oder Kriege, wählen Medien solche aus, die für ihre Zielgruppe relevant sind. Sie berichten darüber, sammeln Hintergrundinformationen und liefern Kontexte. In meiner Kindheit hatten die Fernsehprogramme, Radiosender und die Tageszeitung somit eine recht große Macht. Mich erreichten nur solche Informationen, die von ihnen ausgewählt wurden. Von allen anderen Dingen habe ich nie erfahren. 

Wie sehr sich diese Realität doch von Kindern der Generation Alpha unterscheidet! Kinder wachsen heute mit hunderten Fernsehsendern, einer unendlichen Zahl von Radioprogrammen und einem nie endenden Nachrichtenstrom in sozialen Netzwerken auf. Tausende Creator*innen auf YouTube, TikTok, Instagram und Twitch berichten über Ereignisse, von denen sie annehmen, dass sie für ihre Follower*innen relevant sind. Buchstäblich jeder Mensch mit einem Smartphone kann Reporter*in sein.

Medien als Gatekeeper

In diesem Überangebot von Informationen haben klassische Medien nicht mehr automatisch die Funktion von Gatekeepern, die Ereignisse zur Berichterstattung auswählen und somit entscheiden, was Nutzer*innen sehen. Mehr und mehr sind es die Nutzer*innen selbst, die aus einem unendlichen Nachrichtenstrom die Informationen auswählen, die für sie relevant sind. Dabei werden sie von Algorithmen unterstützt. Algorithmen in ihrer Reinform unternehmen den Versuch, die Interessen der Nutzer*innen kennenzulernen und passende Inhalte anzubieten. Mit jeder Nutzer*in-Aktion wird der Algorithmus ein wenig mehr trainiert, so dass er noch bessere Vorschläge machen kann. Und die Algorithmen lernen schnell. Ebenso wie die Anbieter*in-Seite. Produzent*innen schaffen Inhalte, die häufig auf eine sehr spitze Nutzer*in-Gruppe zielen, und somit gut vom Algorithmus zugewiesen werden können. Die Folge ist eine Hyperpersonalisierung von Content. Hyperpersonalisierung ist ein Thema für einen weiteren Blog-Eintrag.

Klassische Medien sind von Natur aus anders aufgestellt. Insbesondere Fernsehsender, seien sie öffentlich-rechtlich oder privat, verstehen sich als Broadcaster im Wortsinne. Das heißt, sie wollen die breiten Massen erreichen und nicht nur einen kleinen Ausschnitt davon. Dieses Selbstverständnis funktioniert in einer Welt mit Medienüberfluss und mit Steuerung der Inhaltsauswahl durch Algorithmen nicht mehr so gut wie in früheren Zeiten.

Algorithmen als Gatekeeper

Aus Sicht der Algorithmen sind die traditionellen Medien gleichberechtigte Anbieter unter vielen. Es gibt keine Vorzugsbehandlung. Der Algorithmus entscheidet, was die Nutzer*innen zu sehen bekommen. So kann es passieren, dass Nutzer*innen, die sich bei der Auswahl ihrer Medieninhalte ausschließlich auf ihre „For You-Page“ oder die „YouTube-Startseite“ verlassen, überhaupt nicht in Kontakt mit klassischen Medienangeboten kommen. 

Insbesondere für Kinder, die über wenig Kontext und Hintergrundwissen verfügen, ist dies problematisch. Ich möchte dies an einem Beispiel verdeutlichen: In den letzten Wochen war zu beobachten, wie intensiv in Schüler*innen-Kreisen der Gerichtsprozess zu häuslicher Gewalt zwischen einem inzwischen geschiedenen Schauspieler-Ehepaar diskutiert wurde. Auch wenn der Prozess Depp gegen Heard die Lebenswelt von Kindern hier kaum streift, waren auffällig viele über den Verlauf des Prozesses bestens informiert und hatten eine klare Meinung zu Schuld und Unschuld. Dies, weil die Nachrichtenströme der Kinder mit Videos und Memes komplett geflutet waren. Und so wurde der Prozess zum Schulhof-Talk. 

Algorithmen bestimmen, worüber gesprochen wird.

Was bedeutet dies für die klassischen Medien? Sollten diese ebenfalls über Ereignisse in amerikanischen Gerichtssälen berichten? Mit Blick auf Kinder halte ich es für den falschen Weg, auf diese Art der Berichterstattung einzusteigen. Aber wenn Themen in die Timelines der Kinder gespült werden, dann sollten Verantwortliche für Kindermedien dies mitkriegen. Es sollte analysiert werden, welche kindlichen Bedürfnisse hier bedient werden, um dann selbst zwar nicht über den Prozess zu berichten, selbst Kontexte und Hintergründe anzubieten; zum Beispiel zum Thema häusliche Gewalt oder der über die schwierige Beweisführung in diesem Zusammenhang.

Werden Medien damit aber nicht zu Getriebenen von Algorithmen? Ich glaube, dass es noch immer gelingen kann, eine eigene Agenda zu setzen. Dafür müssen Medienanbieter zunächst aber die Mechanismen verstehen, die dafür sorgen, dass Themen für bestimmte Gruppen relevant werden. Dazu bedarf es Experten, die Algorithmen verstehen und für sich nutzen können. Und es bedarf eines Verständnis für die Bedürfnisse der Zielgruppe. Diese können durch Medienforschung aber auch durch eine genaue Analyse der Nutzungsdaten gewonnen werden. Nur dann können auch passgenaue Inhalte geschaffen werden, die zu den Bedürfnissen der jungen Zielgruppe passen.

Glaubwürdigkeit

Neben passgenauen Inhalten und einer Distributionsexpertise bedarf es außerdem glaubwürdige Präsentator*innen des Contents. Fakten werden vor allem dann geglaubt, wenn sie von glaubwürdigen Menschen erzählt werden. Auch zum Thema Personenkult und Personenmarken wird demnächst ein eigener Beitrag entstehen. Vor allem auch zur Frage: Wie findet man den passenden Kopf zu seinem Inhalt.

Zusammenfassend halte ich fest: Traditionelle Medien können auch in einer Welt von Algorithmen relevant bleiben, wenn sie sich auf deren Mechanismen einlassen und passgenaue Angebote schaffen und für ihre Zielgruppe glaubwürdig präsentieren.